Rebekka Kraneis, Krippenerzieherin und Multiplikatorin für das Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ aus Köln, und Yvonne Rehmann vom Institut für Partizipation und Bildung in Kiel im Gespräch mit der LAG freie Kitaträger über die Bedeutung, Formen und Möglichkeiten der Partizipation von Kindern in Krippen, Krabbelstuben und Kindertageseinrichtungen.
LAG: Partizipation in der Krippe: Wie kann sie gelingen?
Rehmann: Grundsätzlich nur dann, wenn die Fachkräfte dazu bereit sind. Das heißt aber auch, dass sie eine konkrete Idee davon haben müssen, wie das geht. Man muss zunächst den Blick dafür öffnen, woran Kinder sich beteiligen können und wollen, was in ihrem Interesse liegt. Im § 45 SGB VIII ist die Rede von „persönlichen Angelegenheiten“. Das ist tatsächlich mehr, als man auf den ersten Blick vermutet.
Kraneis: Wenn Kinder zum ersten Mal in die Krippe kommen, stehen für sie eine Unzahl von Lernaufgaben an, und es ist Sache der Fachkräfte, diese als solche zu erkennen und ihnen angemessen und beteiligend Wert zu geben. Es sind nicht die produktorientierten Aktionen, die in der Regel ausschließlich der „Elternbefriedung“ dienen. Die wirklich wichtigen Aufgaben sind viel basaler und existenzieller und ziehen sich durch den gesamten Kita-Alltag: Zum Beispiel die Trennung von primären Bezugspersonen, die tagtäglich bewältigt werden muss. Fachleute benennen diese Trennung als den größten Stressor der gesamten Kindheit. Darauf aufbauend muss es dem Kind gelingen, neue Bindungen einzugehen, zu Fachkräften und anderen Kindern. Nur auf der Basis sicherer Bindungen kann es sich Selbstfürsorgeaufgaben zuwenden und spielen, und das in sicherer und übersichtlicher Umgebung. Darum geht es zunächst. Bei der Gestaltung dieser Herausforderungen sind die Fachkräfte in besonderem Maße gefragt. Der Übergang vom Elternhaus in die Kita, Bindungsaufbau, Selbstfürsorgeaufgaben wie Essen, Schlafen, die Pflege mit allem, was dazu gehört, bieten ein hohes Maß an Beteiligungsmöglichkeiten. Damit hat ein Kind mehr als genug zu tun.
Rehmann: Richtig, und es ist an den Erwachsenen, diese Beteiligungsmöglichkeiten auszuloten und zu gestalten. Viele Entscheidungen des Alltags werden allerdings üblicherweise ohne die Beteiligung der Kinder getroffen. Wenn Kinder beteiligt werden sollen, braucht es klare Absprachen, worüber Kinder mitentscheiden sollen und worüber nicht. Was trauen wir den Kindern zu? Was trauen wir uns selbst in Sachen Partizipation zu? Was können wir verantworten? Und wie begleiten wir das Kind in der Wahrnehmung seiner Rechte?
Kitas die nach dem Konzept der „Kinderstube der Demokratie“ handeln, legen die Selbst- und Mitbestimmungsrechte der Kinder im Rahmen einer “Kita-Verfassung“ fest. Es braucht dann aber auch immer wieder den Übertrag auf den Einzelfall: Was heißt zum Beispiel das Recht des Kindes selbst zu entscheiden wann es schläft, wenn ich sehe, dass es total müde ist aber überhaupt nicht zur Ruhe kommt? Lasse ich es dann rumtoben oder lege ich es hin – auch gegen seinen Willen? Gegen das Recht des Kindes geht das dann im Prinzip nicht mehr. Wenn Kinder verbindliche Rechte haben, muss jede Fachkraft das ernst nehmen. Sie kann dann nicht mehr mit ihm herumhantieren wie sie es gerade für richtig hält, sondern sie muss unmittelbar an die Bedürfnisse und die aktuelle Situation des Kindes anknüpfen. Das braucht dialogische Kompetenzen. Damit meine ich nicht nur Sprache, sondern auch Gesten, Mimik und Symbole. Sich auf der Basis der Rechte des Kindes mit ihm zu verständigen und zu einigen, ohne zu manipulieren – das ist wohl das Schwierigste.
LAG: Welche Bedeutung hat das Recht auf Beteiligung der Kinder in der Krippe?
Rehmann: Beteiligungsrechte räumen dem Kind den Respekt und vor allem den Handlungsspielraum ein, den jeder erwachsene Mensch in persönlichen Angelegenheiten für sich auch einfordern würde. Das Recht über eigene Angelegenheiten selbst zu entscheiden und an Entscheidungen in der Gemeinschaft beteiligt zu sein, ist ein grundlegendes demokratisches Recht und darf nicht vor der Krippe Halt machen. Die Rechte verändern was in den Köpfen der Erwachsenen – und damit auch für die Kinder.
LAG: Wie erfahren kleine und kleinste Kinder ihre eigenen Gestaltungsmöglichkeiten?
Kraneis: Das Schlüsselwort lautet hier Transparenz und zwar auf vielen verschiedenen Ebenen, die sich letztlich miteinander verzahnen und dem Kind die nötige Orientierung bieten.
Der Kita-Tag eines Krippenkindes setzt sich zusammen aus einer Unzahl von Übergängen, sogenannten „Mikrotransitionen“, und bedeutenden Schlüsselsituationen. Übergänge sind beispielsweise der Abschied von den Eltern und das Ankommen in der Kita, vom Spielen im Außengelände zum Spielen im Gruppenraum, vom Essen zum Schlafen, vom Schlafen zum Freispiel, also jeder Übergang von einer Situation in eine andere. Laut Prof. Dr. Dorothee Gutknecht von der Evangelischen Hochschule Freiburg besteht über die Hälfte des Tagesablaufes eines Krippenkindes aus Übergängen.
Unter Schlüsselsituationen versteht man die in der Krippe alltäglich wiederkehrender Situationen. Hierzu gehören unter anderem das morgendliche Ankommen, alle Pflegesituationen, die Mahlzeiten und das Schlafen.
Schlüsselsituationen und Übergänge müssen so gestaltet werden, dass es dem Kind gelingen kann sich zu orientieren. Es muss unabhängig von seinem Alter nachvollziehen können, was gerade und als nächstes passiert, und was seine Aufgabe in der jeweiligen Situation ist. Wir haben als Fachkräfte vielfältige methodische Möglichkeiten, Routinen und Übergänge für Kinder transparent zu gestalten.
Viele meiner Kolleginnen finden die Vorstellung, Drehbücher für immer wiederkehrende Situationen zu erarbeiten, zunächst etwas befremdlich und starr. Erst wenn sie erfahren konnten, wieviel Freiheit diese Skripte ihnen in der Arbeit mit den Kindern ermöglichen, beginnen sie ihren Wert zu schätzen. Nun macht nämlich nicht mehr Jede alles. Klare Positionen geben nicht nur den Kindern, sondern auch den Fachkräften Orientierung und schaffen Freiräume. Zusätzlich kann in geskripteten Abläufen nicht nur die Fachkraft selbst ein verlässliches „Signal“ für die Kinder sein.
Wir beteiligen Krippenkinder, indem wir Sachverhalte visualisieren oder mit unterschiedlichen Klängen arbeiten. Wichtig ist, dass Routinen und Übergänge stets nach dem gleichen Muster ablaufen, nur so wissen die Kinder, was da eigentlich passiert. Es ist schön zu beobachten, wie schon sehr junge Kinder nach einer Zeit des Beobachtens Abläufe verinnerlichen und sie irgendwann sogar einfordern. Die Fachkraft soll dann „so und so machen“, weil das Kind weiß, so ist es immer. Nur so fühlt es sich sicher.
Rehmann: Ja, Sicherheit schafft die Grundlage, damit ein Kind sich an der jeweiligen Situation individuell beteiligen kann und will. In meinen Vorträgen und Fortbildungen sage ich immer: Partizipation in der Krippe ist Partizipation im Handeln. Nicht nur was wir zu ihnen sagen, sondern in erster Linie was wir wie tun, entscheidet darüber, ob Krippenkinder sich beteiligen können oder nicht. Beteiligung von Krippenkindern braucht vor allem eins: Zeit. Die Geduld zu haben, Dinge mit ihnen in ihrer Zeit zu machen, Wickeln, Anziehen, Tisch decken, Malfarben in kleine Schüsseln füllen, um nur einige Beispiele zu nennen. Krippenkinder wollen und können sich an allem möglichen beteiligen. Oft ist Erwachsenen das aber zu umständlich. „Lass mich das mal schnell machen…“. Das ist schade, denn im Alltag steckt so viel Gestaltungspotenzial, stecken so viele Lernmöglichkeiten, die man nicht erst künstlich schaffen muss. Kinder lernen am besten, wenn sie beteiligt sind.
Oft übergehen wir Kinder mit unserem pädagogischen Gestaltungswahn. Schnell noch wickeln, damit dann alle ihren Handabdruck auf die Laterne machen können. Alles schon vorbereitet – ohne dass die Kinder mitgewirkt haben. Sie setzen sich dann an den gedeckten Tisch und reproduzieren. Das halte ich für falsch! Das Kind hat nichts davon.
Kraneis: Ich habe die Erfahrung gemacht, dass meine Kolleginnen oft unter enormen Druck stehen. Druck, der einerseits mit ihrem eigenen beruflichen Selbstverständnis zu tun hat, vor allem aber hängen die realen oder vermeintlichen Erwartungen der Elternschaft wie ein Damoklesschwert über den Fachkräften.
Wenn ich neue Kolleginnen in Nestgruppen einarbeitete, beauftragte ich sie für die ersten drei Wochen zunächst einmal damit, am Rand des Raumes zu sitzen und nur zu schauen. Sitzen und Schauen, Aushalten, Zuhören, Beobachten. Eine Aufgabe, die allen am schwersten fiel. Eine Erzieherin muss doch immer beschäftigt sein, sie muss herumrennen, irgendetwas regeln, organisieren, eingreifen, produzieren, aber sitzen und schauen? Ja, es fällt schwer, sich von diesem Bild der Erzieherin zu lösen und den Blick auf das Wesentliche zu richten: das Kind. Wenn sie nicht von Anfang an nachvollziehen und verstehen, wo sich Lerngelegenheiten verbergen, und warum wir selbst die Kleinsten beteiligen müssen, werden viele Fachkräfte ihre Arbeit weiterhin an Elternwünschen orientieren.
Rehmann: Aus Studien wissen wir, dass pädagogische Fachkräfte Alltagsroutinen oft nicht als bildungsrelevant ansehen. Das sind sie aber! Eltern das zu vermitteln ist eine wesentliche Aufgabe für die Fachkräfte. Emmi Pikler schrieb: „Alles nicht gegen es, sondern mit ihm zusammen, unter seiner Einbeziehung vornehmen, Schritt für Schritt vorwärtsschreitend.“ Pikler war der Ansicht, die Hände sind die Welt. Darüber, wie wir das Kind be-Hand-eln, erfährt es seine Gestaltungsmöglichkeiten. Beim Wickeln, Naseputzen, Anziehen, Pflaster aufkleben und so weiter macht es sich ein Bild von sich selbst und der Welt – das nennen wir Bildung.
Wir machen darüber hinaus die Erfahrung, dass Krippenkinder auch in größeren Zusammenhängen schon mitwirken können, wenn die Beteiligung für sie konkret und gegenständlich ist, also im Hier und Jetzt stattfindet. Im Modellprojekt „Mitentscheiden und Mithandeln“ wurden Krippenkinder an der Planung des Außengeländes beteiligt und anderes mehr. Die Frage ist nicht ob, sondern wie. Demokratie beginnt bei der Selbstbestimmung in der Fachkraft-Kind-Interaktion und kann von da aus Stück für Stück größere Kreise bis hinein in gemeinschaftliche Fragen ziehen.
LAG: Welche konkreten Beispiele gibt es?
Kraneis: Ich möchte einmal eine Morgenkreis- bzw. Singkreissituation beschreiben, die die Kinder jeden Tag aufs Neue gestalten.
Im Vorfeld machten wir – meine Krippenkolleginnen und ich – uns Gedanken, nach welchem Skript so ein Singkreis ablaufen kann. So muss er einen deutlichen Anfang und ein Ende haben und nicht einfach so „passieren“. In unserem Falle wird er eingeläutet, und eine Kollegin erwartet die Kinder bereits auf dem „Singkreisteppich“, ausgestattet mit allem, was wir benötigen werden: Sitzkissen, Liedermappe und Gitarre. Jeden Tag ist ein anderes Kind für die Gestaltung des Singkreises verantwortlich. Wer das ist, können die Kinder an einem Dienstplan erkennen. Dort sehen sie nicht nur an der Klammer, die von Foto zu Foto wandert, wer an der Reihe ist, sie werden mittels Piktogrammen auch über die Aufgaben des Verantwortlichen informiert: Sitzkissen verteilen, das Programm wählen und Sitzkissen einsammeln. In der Regel haben die Kinder sich den Ablauf aber zusätzlich schon eine Weile von den älteren Kindern der Gruppe abgeschaut, so lernen sie ja schließlich auch.
Wie können Kinder eine Auswahl an Liedern oder Spielen treffen? Wir arbeiten mit Piktogrammen, das heißt zu jedem Lied oder Spiel gibt es ein dazugehöriges Bild. Das kann gegenständlich aber auch abstrakt sein, die Kinder lernen, sobald das Bild mehrfach im Zusammenhang mit einem Lied visualisiert wird, welcher Inhalt hinter welchem Zeichen steckt. Das ist übrigens eine wunderbare Übung zum Lesenlernen, denn da passiert im Grunde nichts anderes, als wiederkehrende Symbole zu erkennen, das ist sprachliche Bildung. Schon mit eineinhalb Jahren sind die Kinder imstande, diese Auswahl zu treffen, sie sind sich im Klaren darüber, warum sie dies tun, und bereits in der Ankommenssituation informieren sie sich, ob sie „dran“ sind.
Das verantwortliche Kind wählt also aus, hebt die Bildkarte für alle anderen Kinder sichtbar nach oben, um sie zu informieren. Hier haben wir die Erfahrung gemacht, dass jüngere Kinder glauben, das, was sie sehen, sei für die anderen Kinder ebenfalls sichtbar. Deshalb haben die Karten auf der Vorder- und Rückseite dasselbe Bild.
Rehmann: Der Morgenkreis ist ein gutes Beispiel. Krippenkindern können und wollen Verantwortung übernehmen! Ich kenne auch Krippeneinrichtungen, die die Liedauswahl von allen Kindern gemeinsam abstimmen lassen. Jedes Kind erhält eine Wäscheklammer und kann damit unter mehreren Bildern, die für ein bestimmtes Lied oder Fingerspiel stehen, auswählen. Mit den Älteren wird dann ausgezählt, aber die Kinder sehen meistens sowieso schon, was „gewonnen“ hat. Sie entwickeln ein Mengenverständnis – da stecken auch mathematische Erfahrungen drin. Und auch so eine Wäscheklammer zu bedienen will gelernt sein. Das ist für mich aber nicht das Wichtigste. Was sie in diesen Situationen über sich selbst und ihre Beziehung zu anderen in der Gemeinschaft lernen, verantwortlich zu sein, dazuzugehören und eigenständige Entscheidungen zu treffen, das ist entscheidend.
Kraneis: Nachdem gespielt, getanzt oder gesungen wurde, die Auswahl ist aus Gründen der Aufmerksamkeitsspanne zumeist auf drei Spiele begrenzt, singen wir bei uns ein Abschlusslied. Nun wissen die Kinder, dass der Singkreis zu Ende ist, das verantwortliche Kind sammelt die Kissen ein, und der Übergang zur nächsten Situation kann beginnen. Ein solch gestalteter Singkreis ist kein „Selbstläufer“. Selbstverständlich kommen auf die Fachkräfte immer wieder Aufgaben der Begleitung zu, wenn Kinder z.B. noch nicht verstanden haben, dass sie nicht jeden Tag „dran“ sind. Im Grunde aber sind in dieser Situation die Kinder die Aktiven und dies altersunabhängig.
LAG: Wann über- bzw. unterfordert Partizipation die Kinder?
Kraneis: Kinder sind über- bzw. unterfordert, wenn Dinge, die sie betreffen, einfach über ihre Köpfe hinweg passieren. Sie zu beteiligen heißt nicht, dass nun alles nach ihrem Willen geschehen muss. Aber zumindest müssen Fachkräfte immer geeignete Methoden finden, um die Kinder darüber in Kenntnis zu setzen, was geschieht und warum. Und hier liegt meiner Meinung nach das größte Problem. Viele meiner Kolleg_innen sind sehr unvorbereitet in die Arbeit mit Krippenkindern „geworfen“ worden, Krippenpädagogik ist erst seit ein paar Jahren Bestandteil der Erzieher_innenausbildung.
Oft mangelt es an fachtheoretischen Kenntnissen über die Entwicklung von bis Dreijährigen, damit einhergehend natürlich auch an Methodenkompetenz. Wenn die Politik völlig kenntnislos Krippenkinder in Kitas stopft, um einen Rechtsanspruch der Eltern auf einen Betreuungsplatz einzulösen, dann ist es letztlich an den Fachkräften, damit plötzlich umzugehen. Erst nach und nach bemüht man sich, Krippenerzieherinnen und -erzieher zu qualifizieren. Und wenn ich als Fachkraft nicht wirklich weiß, wie die Entwicklung von Krippenkindern abläuft, kann ich methodisch nicht angemessen reagieren. So wird z.B. Projektarbeit mit Krippenkindern praktiziert, was sie überfordert, oder sie werden entmündigt und kleingehalten und sind völlig rechtlos.
Rehmann: Wenn Fachkräfte hingegen gelernt haben, Kinder richtig zu „lesen“, also ihre Sichtweise zu verstehen versuchen und mit den Kindern darüber in einen Dialog zu treten, wenden sie ein auf das Kind abgestimmtes Antwortverhalten an. Der Fachbegriff dafür lautet „Responsivität“. Responsives Verhalten von Fachkräften in Alltagssituationen, wie dem Wickeln, Essen oder Schlafen, ist ein wichtiger Schlüssel zur Bildungsqualität, sagt die Freiburger Professorin Dorothee Gutknecht.
Prof. Dr. Bernhard Hauser, der an der pädagogischen Hochschule in St. Gallen lehrt, sprach kürzlich in einem Vortrag von „herausfordernder Responsivität“. Der Begriff gefällt mir. Kindern entlang ihrer Interessen und Bedürfnisse etwas Neues zuzumuten ist keineswegs immer eine Überforderung, das ist Erziehung: Wir geben Orientierung, fordern heraus, bieten an, begrenzen aber auch – auch das kann für Kinder eine Herausforderung sein. Alles was ein kleines Stück weit über dem liegt, was das Kind schon kann oder kennt, schafft Bildungsanlässe. Wenn diese für das Kind anschlussfähig sind, ist „über“-Forderung zu bewältigen.
Wenn Erwachsene Kindern jedoch immer alles verbieten, sei es, weil man besorgt ist, dass sie sich verletzen könnten oder weil es für uns gerade nicht in den Ablauf passt, dann langweilen Kinder sich schnell. Das ist auch nicht vom Kind aus gedacht. Wer Pädagogik vom Kind aus denkt, wird das richtige Maß zwischen Über- und Unterforderung finden.
Kraneis: Zuhören! Abwarten und zuhören! Jedes Kind hat etwas zu sagen, selbst wenn ihm dafür noch keine Worte zur Verfügung stehen. Wenn ich als Erwachsener einem Kind eine Frage stelle, kann ich sicher sein, dass es diese auf seine Weise beantwortet. Viel zu schnell beantworten wir unsere eigenen Fragen selber, greifen vor oder bewerten schon im Voraus. Wenn man mit Krippenkindern arbeitet, braucht man Zeit. Und die muss man sich nehmen wollen, da muss wohl das ein oder andere überflüssige Bastelangebot wegfallen.
Rehmann: Krippenkinder zeigen uns Ihre Bedürfnisse und ihre Sichtweise auf die Dinge durch ihr Tun. Wir hören sogar immer wieder von Krippenkindern, vor allem in der offenen Arbeit, die sich an Wahlen oder den Sitzungen des Kinderparlaments beteiligen wollen: Sie sind einfach mit hingegangen und haben zugeschaut oder sich an der Abstimmung beteiligt. Das überraschte uns anfangs auch. Dass das geht und die Kinder wirklich interessiert sind, mitzubekommen was dort passiert, haben wir so von den Kindern gelernt. In einer demokratisch gestalteten Kita wachsen sie wie selbstverständlich auch in diese Prozesse hinein. Das ist für Sie normal. ‚So läuft das also hier‘ – Sie wollen mitmachen und lernen darüber wie Gemeinschaft organisiert ist.
Freiwilligkeit ist hier ein wichtiger Motor, Beteiligung kann man nicht anordnen, das wäre kontraproduktiv. Jedoch versuchen Kinder ja eigentlich andauernd herauszufinden, wie etwas geht. Das liegt in ihrer Natur und gilt besonders auch für soziale Prozesse: Sie wollen mit uns kooperieren, wollen helfen, wenn es etwas zu tun gibt. Der Anthropologe Michael Tomasello erforschte mit beeindruckenden Ergebnissen, warum Menschen, auch schon sehr kleine, kooperieren und liefert dafür eindringliche Beispiele, die man sich auch auf Youtube ansehen kann. Jedes noch so kleine Kind will sich einbringen und Teil seiner Gemeinschaft sein. „Autonomie in Verbundenheit“ möchte ich dieses Grundbestreben nennen. Erwachsene unterliegen manchmal dem Irrtum, man müsste ihnen das erst beibringen.
Und eins noch: Kinder einfach nur zu fragen, was sie wollen, oder ihnen ständig eine Entscheidung abzuverlangen, die sie gerade nicht wirklich bewegt, macht noch keine Partizipation. Es muss für das Kind eine Relevanz haben.
LAG: Wie kann eine angemessene Alltagsbeteiligung aussehen?
Kraneis: Ich komme an dieser Stelle auf die Eingangsfrage zurück. Jede Fachkraft muss zunächst einmal wissen, welches die basalen Bedürfnisse von Krippenkindern sind. Wenn sie diese kennt, ist der nächste Schritt, darüber nachzudenken, was nötig ist, um die Kinder an der Befriedigung dieser Bedürfnisse zu beteiligen. Wie sind die Räume eingerichtet? Hat das Kind Zugang zu Material, erkennt es, was sich wo befindet? In welcher Höhe sind die Garderoben? Sind Sitzmöbel so, dass es dem Kind gelingen kann, sich selbstständig zu setzen? Ist das Tischequipment für einen selbständigen Umgang geeignet (transparente Schüsseln, kurze Kellen und Auflegelöffel, leichte Kannen zum Eingießen)? Finden die Kinder ihren Platz am Tisch? Wie erkennen sie, dass eine Mahlzeit beginnt/beendet ist? Haben die Kinder Zugang zu ihren persönlichen Pflegeutensilien? Sind die Strukturen transparent und nachvollziehbar? Ist das Verhalten der Erwachsenen transparent und nachvollziehbar? Diesen Fragenkatalog könnte ich unendlich weiterführen. Nur wenn gewährleistet ist, dass das Kind bei den Dingen, die es selbst betreffen, eigenständig agieren kann, ist Alltagsbeteiligung erreicht.
LAG: Und schließlich: Welchen Beitrag leistet Partizipation zum Erlernen von Selbstwirksamkeit?
Rehmann: Einen wesentlichen. Wenn nicht den größten. Noch gibt es aber kaum Studien zur demokratischen Partizipation von Krippenkindern. Ich würde gerne mal eine machen! Demokratie, Beteiligung, Rechte haben – das beginnt im Alltäglichen. Ich würde sagen: Partizipation ist der Schlüssel zur Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Lernen müssen Kinder das eigentlich nicht, die Erwachsenen müssen es ermöglichen. Ich befürchte wir sind in dieser Hinsicht allzu oft eher Verhinderer. Wenn Kinder erfahren, dass ihre eigenen Empfindungen und Bedürfnisse wichtig sind und von Fachkräften sogar ermuntert werden, diese zu äußern, wenn sie sich selbst als Gestalter ihres Lebens und des Lebens in der Gemeinschaft einzubringen, dann ist das doch nichts anders, als die Ermöglichung von Selbstwirksamkeitserfahrungen.
Wir hören in Fortbildungen immer wieder von Fachkräften, wie erstaunt sie sind, was ihre „Krippis“ alles können, wenn man ihnen etwas zutraut. Zutrauen schafft Vertrauen. Das überträgt sich auf das Kind: Wer auf sich selbst vertrauen kann, traut sich auch etwas. Wer die Erfahrung macht, dass man mit Eigeninitiative etwas erreichen kann, dann ist das Selbstwirksamkeit. Das fängt beim Lichtschalter an: an – aus. Das war ich! Um zu wissen wie etwas geht, muss ich die Möglichkeit haben, es immer wieder zu erleben. Die Kinder lehren uns immer wieder, dass Selbst- und Mitbestimmung in der Krippe machbar ist. Sie wissen sehr gut, was sie brauchen und teilen Erwachsenen das auch mit. Verbindliche Rechte, bis hin zu Beschwerderechten, wenn andere Rechte missachtet werden, sorgen auf beiden Seiten für Klarheit. Die angemessene methodische Gestaltung liegt in der Verantwortung der Fachkräfte.
Kraneis: In meiner Praxis kann ich jeden Tag beobachten, wie die Kinder an ihren Aufgaben wachsen, was es mit ihnen macht, etwas geschafft zu haben, für sich selbst gesorgt zu haben.
Gerade die Jüngsten der Kita sind es, die dann von ihren Eltern Beteiligung fordern. Häufiger höre ich: „Ich habe drei Kinder zuhause, keines der Älteren mag mir helfen, nur das Jüngste wird regelrecht sauer, wenn es im Haushalt nicht mitmachen darf. Und was das Beste ist, es kann das alles!“ Wirksam und kompetent! Aber hier sind wir gefragt, wir Fachkräfte und unsere Haltung zu Kindern. Wirksam und kompetent können Kinder nur sein, wenn wir bereit sind, ihnen das Recht auf Beteiligung zuzugestehen.
Rebekka Kraneis, päd. Fachkraft im Krippenbereich und Multiplikatorin der Konzepte „Die Kinderstube der Demokratie“ und „Mitentscheiden und Mithandeln in der Kita“, ist in der Fortbildung für Kitas tätig und spezialisiert auf die Gestaltung von Beteiligungsprozessen für Kinder bis zum dritten Lebensjahr.
Yvonne Rehmann, Dipl.-Soz.Päd. & M.A., ist in der Fortbildung und Prozessbegleitung für Kitas und Familienzentren tätig und Mitglied im Institut für Partizipation und Bildung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Partizipation, Familienzentren und Krippenpädagogik.
www.partizipation-und-bildung.de
Das Gespräch wurde in gekürzter Form bereits in der LAG-Mitgliederzeitschrift “Rundbrief” (2/2018) veröffentlicht.